Mit "Marshmallows" gegen Körperschall

An der Europaallee in Zürich entstehen hochwertige Immobilien direkt neben dem Gleisfeld des Zürcher Hauptbahnhofs. Nicht Lärm ist das Problem, sondern Körperschall – ein guter Grund für die Erschütterungsschützer, es bunt zu treiben.

Morgens um 7.30 Uhr an der Europaallee in Zürich. Aus der Bahnhofsunterführung streben die Pendler in Anzug und Kostüm auf die Bürotürme zu, den Laptop in der einen, den Take-away-Kaffee in der anderen Hand. Sie bewegen sich routiniert durch das Entwicklungsgebiet, ignorieren die Pop-up-stores auf der einen Seite ihres Weges ebenso wie den Bauzaun auf der anderen Seite. Nur an wenigen Stellen gibt der Zaun den Blick frei auf die tiefen Baugruben dahinter. Eine davon ist unser Treffpunkt mit Thomas Rupp und Adriano Manuel. Das so genannte Baufeld F. Hier wird bis 2019 ein bis zu 54 Meter hoher Gebäudekomplex für Wohnen, Dienstleistungen und Detailhandel entstehen. Das Areal liegt direkt neben dem Gleisfeld des Zürcher Hauptbahnhofs. Das ist auch der Grund, warum wir heute hier sind.

 

Laufen auf Marshmallows

Auf den ersten Blick ist an der Baugrube nichts Auffälliges zu entdecken. Über eine Erdrampe geht es hinunter zur Fundamentplatte. Es herrscht das übliche Baustellengewimmel. Und dann springen sie einem doch ins Auge: die schwarzen, violetten, tiefgelben, blutorangeroten und azurblauen Matten, die hier gestapelt sind und bereits einen grossen Teil der Fundamentplatte bedecken. "Das sind Elastomermatten", erklärt Bauingenieur Adriano Manuel. "Sie schützen das Gebäude vor Erschütterungen, die von den Zügen verursacht werden und – noch viel wichtiger – vor Körperschall." Körperschall ist Schall, der von schwingenden Bauteilen in einem Gebäude erzeugt wird. Mit den elastischen Matten wird das Bauwerk von allen Seiten vom Untergrund entkoppelt und die Schwingungen werden kaum mehr auf das Gebäude übertragen. Vorsichtig betreten wir die gelb verlegte Fläche vor uns – und sind verblüfft: Die Füsse sinken ein. Beim Gehen wird einem fast schwindelig so nachgiebig ist das Material. Ganz anders die orangefarbenen Matten. Darauf lässt es sich angenehm laufen, wie auf einem leicht federnden Waldboden. Damit ist auch klar, was die Farben bedeuten: Jede Farbe signalisiert eine andere Elastizität und damit Belastbarkeit.

Ein farbiges Bild der Gebäudelasten

"Die Last des fertigen Gebäudes bestimmt den Mattentyp und damit die Farbe", erläutert Erschütterungsspezialist Thomas Rupp das bunte Mosaik. Deshalb werden die Matten nach einem strikt vorgegebenen Verlegeplan platziert, den die beiden Experten erstellt haben. Denn die Lasten sind sehr unterschiedlich verteilt. Am höchsten sind sie im Bereich der drei Türme mit Höhen von 38, 47 und 54 Metern, die mit einer kombinierten Pfahl-Platten-Gründung fundiert sind. Auf einen einzigen Pfahl werden bis zu 13 MN einwirken – das entspricht dem Gewicht von rund 10 der leistungsstärksten SBB-Lokomotiven. Dementsprechend werden die Pfähle mit Schwingungslagern aus extrem steifen Kunststoffmatten vom auflagernden Gebäude getrennt. Die schwarzen, kreisrunden Scheiben heben sich deutlich von der farbigen Umgebung ab. Das Verlegemuster gleicht dem Spielfeld einer trendigen neuen Ballsportart. Die geringsten Lasten treten in den Bereichen auf, in denen die beiden Untergeschosse nicht weiter überbaut werden. Hier leuchten die Matten zitronengelb.

Es kommt auf jedes Detail an

"Die Farben sind für die Qualitätssicherung extrem wichtig", betont denn auch Adriano, der die Baukontrollen durchführt. "Wenn auch nur an einem Ort eine falsche Matte liegt, kann das später schwerwiegende Auswirkungen haben." Das Gebäude könnte sich ungleichmässig setzen oder der Erschütterungsschutz nicht ausreichend gewährleistet sein. Entsprechend oft ist der Fachmann vor Ort, um die Ausführung zu überprüfen. Das fing schon bei der Auswahl des Betons für die Fundamentplatte an. "Gewöhnlicher Magerbeton ist zu rau für die Matten." Ebenso wichtig ist die völlige Abdichtung der Mattenschicht, bevor die Bodenplatte darauf betoniert wird. Adriano und Thomas prüfen die Verklebung der Kunststofffolie akribisch. "Wenn Beton zwischen zwei Matten dringt, finden die Erschütterungen einen Weg ins Gebäude und damit wäre die ganze Mühe umsonst."

 

Hohe Anforderungen

Für Erschütterungen und Körperschall sind gesetzliche Minimalanforderungen in der so genannten "BEKS*" festgelegt. Für die hochwertige Immobilie an der Europaallee orientierte sich die Bauherrschaft an einem Zielwert von maximal 33 Dezibel (dBA) für einen vorbeifahrenden Zug – das entspricht ungefähr dem Geräusch einer modernen Lüftungsanlage. "Mit der elastischen Gebäudelagerung können wir diesen Wert erreichen", ist Thomas überzeugt. Inzwischen ist es 9.00 Uhr geworden, Z'nüni-Zeit, die Baustelle leert sich. Es wird schlagartig still. Erst jetzt dringen die Geräusche der Stadt bis hierher, das Dudeln eines Radios in einem Café, Gelächter, das Schrillen der Gleise. "Spannend werden die ersten Erschütterungsmessungen auf der Bodenplatte", meint Adriano. "Dann haben wir konkrete Anhaltspunkte, wie gut unsere Prognosen waren."

*Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL, heute BAFU) (1999): Weisung für die Beurteilung von Erschütterungen und Körperschall bei Schienenverkehrsanlagen.

 

Zur Übersicht "Aktuelles"