ORGANISATION & ENTWICKLUNG

Toleranz braucht Training

Wir sehen uns alle gerne als tolerante Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Doch wie weit reicht unsere Toleranz tatsächlich? Bis zum Kollegen, der sein Zwiebelgericht in der Büro-Mikrowelle aufwärmt? Bis zur Nachbarin, die jeden zweiten Tag für ihre Guggenmusik übt? Oder bis zu den Windrädern vor der eigenen Haustür? Wo für viele die Toleranz aufhört, fängt sie aus Sicht des Philosophen Rainer Forst¹ erst richtig 
an. Nämlich dort, wo wir bereit sind, etwas auszuhalten, das wir ablehnen. Wofür sollte das gut sein? Ist Toleranz dann nicht genau das, was ihr immer vorgeworfen wird – nämlich lasche Haltungslosigkeit?

Toleranz hat einen durchwachsenen Ruf, weil sie oft mehr als Ausrede dient, denn aus Überzeugung vertreten wird. Genau das fordert aber der Toleranz-Philosoph Forst: Toleranz sei nur dann positiv zu bewerten, wenn es einen guten Grund für sie gebe. Übertragen auf eine Situation, die wohl alle aus ihrem Alltag kennen: Ich ertrage im Strassenverkehr auch «wildes» Verhalten und verteidige nicht stur meine Rechte, weil mir ein friedliches Miteinander wichtiger ist als Rechthaberei. So gelebte Toleranz zeigt Haltung und steht für etwas ein, das wichtiger ist als das eigene Wohlbefinden.

«Ohne Angst verschieden sein»
In Unternehmen richtet sich die Toleranzfrage vor allem an Menschen, die Führungsaufgaben übernehmen – sei es als Projektleitende oder Vorgesetzte. Sie prägen mit ihrem Verhalten die Spielregeln und die Kultur in ihren Teams. So gehört es zu einem der Kernmerkmale von Hochleistungsteams, dass sie in der Lage sind, Verschiedenheit in Zusammenarbeitsfähigkeit zu verwandeln. Dazu gehören Reibung, Konflikt und die Fähigkeit, Differenz auszuhalten. Die vielzitierte psychologische Sicherheit spielt eine zentrale Rolle: Kann ich als Teammitglied angstfrei Fehler ansprechen, eine abweichende Meinung äussern, eine schräge Idee einwerfen? Kann ich «ohne Angst verschieden sein»²? Ein solcher Raum wird von Leitungspersonen ermöglicht – oder aber durch dominierendes Verhalten verhindert. 

Den Toleranzmuskel trainieren
Deshalb sind insbesondere sie aufgefordert, ihren «Toleranzmuskel» zu trainieren und sich selbst zu beobachten: Bin ich leicht zu «triggern» oder kann ich zurückgelehnt zuhören? Greife ich ein, weil grundlegende Werte tangiert sind oder weil mir eine Meinung nicht zusagt? Ertrage ich Widerspruch oder sehe ich darin einen Angriff auf meine Autorität? Das ist anstrengende Selbstreflexion – ein Art Toleranz-Workout. Und wie bei jedem Workout lohnt es sich, auch mal an die Belastungsgrenze zu gehen. Und sich dessen bewusst zu sein, wo diese liegt.

¹ Tipp: SRF Sternstunde Philosophie «Sind wir tolerant genug?» vom 08.04.2012 | ² Theodor Adorno