FACHLICH & PERSÖNLICH
Toleranz ist Spielraum
Wie viel Präzision ist genug? Wo endet die Toleranz im Tunnelbau? Und was haben Kühe mit Biosicherheit zu tun? Vier Fachleute berichten, mit welchen Spielräumen und Toleranzgrenzen sie im Berufsalltag zu tun haben.

Fred, was heisst Toleranz für dich?
Bei Toleranz geht es um Puffer, Spielräume, Passung. Toleranz findet an der Schnittstelle zweier Systeme statt: Es geht um Dinge, die zusammenpassen sollen. Der Spielraum – die Toleranz – ist der Bereich, in dem die Passung noch möglich ist, trotz Abweichung vom präzisen Sollmass. Wird der Spielraum überschritten, kann es sein, dass die Dinge nicht mehr funktionieren. Wir Ingenieure müssen in jedem Projekt technische Toleranzen definieren, für Bauteile, Abmasse, Verdrehungen. Wir halten uns dabei an die SIA-Norm 414 für Masstoleranzen. In meinem Berufsleben habe ich auch viel über soziale Toleranz gelernt. Wird zum Beispiel ein neues IT-Tool eingeführt, dessen Mehrwert für mich nicht unmittelbar erkennbar ist, das aber für die gesamtbetriebliche Zusammenarbeit elementar ist, muss ich das zunächst einmal tolerieren. Und es gibt im Beruf einen dritten Toleranzaspekt: Auch Frustrationstoleranz ist wichtig und kann sogar positiv sein.
Wann ist Frustrationstoleranz wichtig?
Bei der Frustrationstoleranz geht es ums Aushalten-Können. Ich beziehe mich vor allem auf die Akquisition. Als Ingenieurteams wirken wir in vielen Wettbewerben mit, und nicht immer schaffen wir es eine Runde weiter. Man muss auch Absagen akzeptieren können. Gute Arbeit allein reicht manchmal nicht, Glück und Pech gehören ebenso dazu. Eine Absage ist nicht immer als Niederlage zu verstehen. Statt zu verzweifeln, ist es wichtig, eine gewisse systemische Toleranz zu entwickeln, um daraus gestärkt den Blick nach vorne zu richten. Das hat sich bisher immer gelohnt.

Kam es schon vor, dass Toleranz entscheidend für den Erfolg oder den Misserfolg war?
Ja, Toleranz im technischen Sinn bei einem grossen Bauprojekt in der Nähe von Luzern. Dort sollten an einem Wohngebäude rund 100 vorgefertigte Balkone montiert werden. Der Unternehmer vergrösserte unplanmässig die Toleranzen in der Lochplatte für die Deckeneinlage. Als die Konterplatten der Balkonelemente angebracht werden sollten, hatten diese zu viel Spiel. Da gingen die Emotionen hoch, die Frage der Verantwortung stand im Raum. Zunächst war gar nicht klar, warum die Elemente nicht passten. Als die Ursache geklärt war, haben wir eine ausgeklügelte Lösung gefunden. Es gelang, die Löcher mit Spezialmörtel so anzupassen, dass eine stabile Verbindung der Platten möglich wurde. Und das unter Zeitdruck: Wir mussten testen, einen Prototyp erstellen, Messungen durchführen, bis wir die Lösung – eine Ringspaltverfüllung – umsetzen konnten.
Die Emotionen gingen hoch. Wie reagiert man in solchen Momenten?
Indem man konstruktiv den «Fisch auf den Tisch» legt. Will heissen: die Herausforderung ansprechen und zusammen Lösungen suchen. Im Ingenieurwesen sind wir oft mit Emotionen konfrontiert, denn bei Bauwerken geht es meist um grosse Risiken, viel Geld und Zeitdruck. Im erwähnten Fall setzten sich letztendlich alle Beteiligten an einen Tisch. Wir schufen ein gemeinsames Verständnis davon, was die Fakten sind und welche Präzision nötig ist. Schliesslich fanden wir eine technische Lösung, die auch kostenseitig im Toleranzbereich lag. Toleranzen einzufordern, ist oft entscheidend für die Konfliktklärung.
Präzision, aber auch Spielraum sind in deinem Beruf von Bedeutung. Auf welcher Seite fühlst du dich wohler?
Das kommt darauf an. Mir gefällt das Zitat: «Lieber ungefähr richtig als genau falsch». Wenn ein junger Ingenieur oder eine junge Ingenieurin sagt, «wir müssen nochmals genauer rechnen», werde ich hellhörig. Geht es vielleicht nur darum, eine Entscheidung hinauszuzögern? Als Ingenieur frage ich mich oft: Nützt noch mehr Präzision etwas? Es bringt beispielsweise nichts, einen bestehenden Träger noch genauer zu berechnen, wenn anhand von Faustformeln schon klar ist, dass dieser offensichtlich nicht verstärkt werden muss. Es gibt Situationen, da ist es egal, wie genau du jetzt rechnest. Ich vertrete die Haltung: Nur so viel Präzision, wie nötig ist, um innerhalb der Toleranzgrenzen zu bleiben.

Wir wechseln vom Hoch- zum Tunnelbau: In diesem Fachgebiet haben sich im Lauf der Zeit einige Toleranzgrenzen verschoben. Ein Wandel zum Besseren, wie Marco Ramoni im nächsten Interview erzählt.
Marco, wo ist mehr Toleranz gefragt, im Tunnel- oder im Hochbau?
Im Hochbau haben sie strengere technische Bautoleranzen. Sie arbeiten mit kleineren Massstäben, da geht es eher um Millimeter. Bei uns im Tunnelbau geht es darum, dass der Tunnel unter Berücksichtigung der Bautoleranzen am Schluss gross genug und am richtigen Ort ist. Man muss sich das so vorstellen: Projektierst du einen Bahntunnel, sind die Gleisgeometrie und das Lichtraumprofil zu berücksichtigen. Sie definieren, wo der Tunnel liegt und wie gross er sein muss. Nun kann man von keinem Bauunternehmer verlangen, dass er millimetergenau arbeitet; das schafft niemand. Deshalb bauen wir den Tunnel ein bisschen grösser, sodass er, unter Berücksichtigung der unvermeidbaren baulichen Abweichungen, immer noch genug Platz für den Zug und die Infrastruktur bietet. Wir rechnen mit Bautoleranzen von insgesamt 10 bis 15 Zentimetern.
Gibt es im Tunnelbau Intoleranzen?
Dazu kann ich dir eine Anekdote erzählen. Einer meiner Vorgänger ging Anfang der 1980er-Jahre mit einer Ingenieurin auf eine Tunnelbaustelle. Die Mineure sind aus dem Tunnel rausgelaufen und haben gerufen: «Frau im Tunnel! Das bringt Unglück!». Das war damals eine Intoleranz. Die einzige Frau, die in den Tunnel durfte, war die Heilige Barbara, die Schutzpatronin. Zum Glück ist das vorbei. Heute sind Frauen Baustellenchefinnen oder Chefbauleiterinnen.

Ein krasses Beispiel – gibt es aktuelle No-Gos?
Keine Kompromisse gibt es bei der Sicherheit. Das gilt für die Arbeitssicherheit, die Tragsicherheit und die Gebrauchstauglichkeit. Die entsprechenden normativen Vorgaben sind zu erfüllen. Bei der Arbeitssicherheit geht es um Menschenleben: Niemand darf zu Schaden kommen. Das Tragwerk muss unter Belastung stabil bleiben. Bei der Gebrauchstauglichkeit geht es darum, dass der Tunnel für den vorgesehenen Zweck nutzbar ist, dass er sich zum Beispiel nicht verformt, keine Risse bildet und undicht wird.
Was braucht es eigentlich, um einen Tunnel zu bauen?
Eine Baubewilligung.
Gibt es keine Einschränkungen, etwa von der Natur her?
Heutzutage, mit all den Technologien, ist fast alles baubar. Es ist nur eine Frage, wie viel das kostet und wie lange es geht. Ich betreue beispielsweise in Bern ein Projekt für die RBS, wo zwei grosse Kavernen nur zwölf Meter unterhalb der Gleise des SBB-Bahnhofs ausgebrochen wurden, während die Züge oben durchfuhren. International gibt es noch verrücktere Projekte: Man hat Flüsse unterquert, sogar das Meer. In eine Sanddüne könntest du keinen Tunnel bauen. Doch. Man braucht nur geeignete Bauhilfsmassnahmen und die richtige Ausbruchsicherung.
Wenn du durch die Zeit reisen und ein Tunnelprojekt besuchen könntest: Welches wäre das?
Spannend wäre ein Besuch in der zweiten Epoche des Schweizer Tunnelbaus, in den 1960er-Jahren. Da wurden überall Tunnel gebaut, vor allem für die Autobahnen. Die technischen Fortschritte waren gross; ich würde sagen, damals begann der moderne Tunnelbau. Mein Vater war einer der Mineure, die diese Tunnel bauten. Er erzählte immer viele Geschichten: Die erste Dusche, die er je gesehen hatte, sah er auf der Baustelle, nicht zu Hause. Täglich gab es auf der Baustelle Fleisch zu essen, und den Lohn, 500 Franken, bekam er im Couvert überreicht. Bei der Arbeitssicherheit herrschte aber eine ganz andere Kultur als heute. Mein Vater berichtete von Unfällen, bei denen Leute gestorben sind.
Tödliche Unfälle noch in den 1960er-Jahren?
Ja, das war normal. Aber schon besser als zu den Pionierzeiten. Beim Bau des Gotthard-Bahntunnels vor 1900 gab es noch mehr als zehn Tote pro Kilometer. Beim Gotthard-Strassentunnel, der in den 1970ern gebaut wurde, war es noch ein Toter pro Kilometer – auch noch viel. Dann, beim Gotthard-Basistunnel, für den in den 2000er-Jahren zweimal 57 Kilometer gebaut wurden, waren es insgesamt 19 Tote. Heute ist die Arbeitssicherheit enorm wichtig. Und das ist richtig so.

Die Expertin für Biosicherheit Gesche Bernhard erlebt in ihren Auslandeinsätzen, wie Toleranzgrenzen kulturell variieren. Wie sie trotz strengen Sicherheitszielen kundenspezifische Lösungen sucht, erzählt sie uns hier.
Gesche, sieht man dich auch mal in Schutzkleidung?
Ja, manchmal trage ich Schutzausrüstung. Wenn wir zum Beispiel in ein Forschungslabor gehen, ist eine der Sicherheitsstufe entsprechende Schutzausrüstung Pflicht. Es gibt vier Biosicherheitsstufen; je höher die Stufe, desto umfangreicher sind die Sicherheitsmassnahmen. So trägt man in einem Hochsicherheitslabor der Stufe 4 einen luftdichten Vollschutzanzug und wird mit separater Atemluft versorgt. In einem Standardlabor eines kleinen Biotech-Unternehmens hingegen reichen, je nach Vorschriften, ein Labormantel, Sicherheitsbrille und Handschuhe. Höchste Vorsicht ist nicht nur beim Eintritt geboten, sondern auch beim Verlassen der Anlage: Nichts, was kontaminiert sein könnte, darf nach aussen dringen.
Womit befasst sich eine Expertin für Biosicherheit?
Mit biologischen Gefahren. Das sind Organismen oder biologische Materialien, von denen eine Gefahr für Menschen, Tiere oder die Umwelt ausgehen kann. Dazu zählen bestimmte Bakterien, Hefen, Einzeller, Parasiten und ihre infizierten Wirte. Dies können auch Insekten sein, beispielsweise Malaria übertragende Mückenarten. Generell kann es sich um genetisch veränderte, krankheitserregende oder gebietsfremde Organismen handeln. Unser Ziel ist der sichere Umgang mit diesen Organismen und der Schutz vor Freisetzung, Ausbreitung und Infektion.

Gibt es irgendeine Form der Toleranz in der Biosicherheit?
Bei den projektspezifisch definierten Sicherheitszielen gibt es keine Toleranz, sie müssen erreicht werden. In der Biosicherheit basieren die Sicherheitsziele auf drei Säulen: den nationalen Gesetzen, den internationalen Standards und bewährten Vorgehensweisen sowie der Risikoanalyse jedes Projekts. Toleranz gibt es aber auf dem Weg, wie wir diese Ziele erreichen. Es braucht Offenheit und eine gewisse Flexibilität, um kundenspezifische Lösungswege zu finden. Nicht immer sind europäische Standards auf andere Länder übertragbar; manchmal sind die klimatischen oder technischen Möglichkeiten anders oder wir müssen kulturelle Traditionen und religiöse Rahmenbedingungen berücksichtigen. In einigen Ländern ist beispielsweise der Wunsch nach dem Tragen eines Hijabs zu berücksichtigen, wenn wir die Schutzausrüstung festlegen.
Arbeitet dein Team aktuell in einem Projekt, in dem Offenheit zentral ist?
Ein Projekt, in dem wir mit offenem Geist Lösungswege finden müssen, haben wir in Indien. Dort ist der Bau eines tiermedizinischen Instituts geplant, in dem Impfstoffe entwickelt werden, etwa gegen Maul- und Klauenseuche. Die Wirksamkeit solcher Impfstoffe muss man an Tieren testen. Bei Maul- und Klauenseuche sind dies Kühe. Überall auf der Welt würden die Kühe nach den Tests getötet, und die Kadaver müssten innerhalb des Hochsicherheitsbereichs dekontaminiert werden, denn es gilt: Potenziell infektiöse Materialien, auch Tierkörper, müssen inaktiviert werden. Es ist zentral, zu verhindern, dass Krankheitserreger nach aussen dringen. Nun aber sind Kühe in Indien heilig und dürfen nicht getötet werden. Gewünscht ist also ein Konzept, wie diese Kühe weiterleben können, etwa auf einer besonders konzipierten Art «Gnadenhof» auf dem Gelände des Instituts. Ob dies möglich sein wird, ist noch unklar. Es braucht aber die Offenheit, solche Fragen anzugehen.
Hat sich die Corona-Pandemie auf eure Arbeit ausgewirkt?
Ja, durchaus. Weltweit steigt seit der Pandemie der Bedarf an Hochsicherheitslaboren für die Diagnostik und die Produktion von Impfstoffen gegen humane, epidemische und pandemische Erreger. Viele Länder haben gemerkt, dass sie von anderen abhängig sind und im Ernstfall Versorgungsdefizite hätten. Diesbezüglich beraten wir in Projekten in Afrika und in Südostasien.
Gibt es weitere Aspekte, die wichtiger geworden sind?
Ein Aspekt, der zunehmend Aufmerksamkeit erhält, ist die Biosecurity. Dabei geht es um das Verhindern von Missbrauch und Diebstahl von Krankheitserregern oder den Daten, die damit zusammenhängen. Dieser Aspekt hat bereits Eingang in die Schweizer Gesetzgebung gefunden, und seine Aktualität spiegelt sich in einer neuen internationalen Richtlinie zur Biosecurity wider, die im Juli 2024 von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlicht wurde. Letztendlich geht es um Dual Use und Bioterrorismus. Gemeint ist die Möglichkeit, dass man ein und denselben Stoff für friedliche Zwecke, aber im schlimmsten Fall auch für Waffen nutzen kann. Die Biosecurity beleuchten wir seit jeher in jeder Risikoanalyse. Wir merken aber, dass heute auch kleinere Firmen dieses Thema von sich aus ansprechen.

Biosicherheit spielt bei der nächsten Interviewpartnerin kaum eine Rolle. Dafür umso mehr die psychologische Sicherheit: Für unsere HR-Leiterin Bianca Gasser trägt Toleranz zum Unternehmenserfolg bei.
Bianca, hast du jüngst einmal Toleranz erlebt?
Ich erlebe Toleranz täglich. Auch bei meiner eigenen Rekrutierung habe ich sie erlebt. Mein erstes Jobinterview bei Basler & Hofmann hatte ich vier Wochen nach der Geburt meiner Tochter. Mein heutiger Vorgesetzter wusste von der Geburt – und fand es wundervoll. Er leitete aus meiner Mutterschaft keine Schlussfolgerungen für mein berufliches Wirken ab. Er teilte diese Information nicht mit weiteren Gesprächspartnern, sodass ich meine Geschichte selbst erzählen konnte. Dafür setze ich mich auch persönlich ein: Menschen sollen nicht aufgrund ihrer Lebensumstände stereotypisiert werden.

Welche Rolle spielt Toleranz in der Unternehmenskultur?
Toleranz heisst, offen gegenüber anderen Perspektiven zu sein. In einem Unternehmen handelt es sich um eine Grundhaltung, die Vielfalt schätzt. Vielfalt ist ausschlaggebend für den Unternehmenserfolg. Innovation ist nur möglich, wenn der Austausch von unterschiedlichen Perspektiven geschätzt und gefördert wird. Das erfordert ein Umfeld, in dem sich Menschen psychologisch sicher fühlen.
Was meinst du mit psychologischer Sicherheit?
Der Begriff stammt von der US-Forscherin Amy Edmondson. Es geht darum, dass sich Menschen in einem Team, einem Unternehmen sicher fühlen, ihre Meinung zu äussern. Oder Fragen zu stellen, Fehler zuzugeben, neue Ideen einzubringen. Und das ohne Angst vor Ablehnung, Spott oder negativen Konsequenzen. Edmondson hat aufgezeigt, dass psychologische Sicherheit ein Schlüsselfaktor für erfolgreiche Teams ist.
Wie bringt man technisch orientierte Fachleute dazu, sich mit Werten wie Toleranz auseinanderzusetzen?
Themen wie Toleranz und Zusammenarbeit sind nicht messbar wie die Tragfähigkeit einer Brücke, sie sind aber für alle Mitarbeitenden spürbar. Sie prägen den Erfolg jedes Projekts. Die fachliche Expertise ist das eine; für den Projekterfolg entscheidend ist ebenso, wie wir zusammenarbeiten. Wir alle spüren schnell, wie in einem Team miteinander umgegangen wird. Vonseiten HR adressieren wir solche Themen zum Beispiel in internen Weiterbildungen wie dem Modul «Mitarbeitende entwickeln – Potenziale erschliessen» oder mit Anlässen für den Austausch.
Welche Rolle spielt Toleranz in der Rekrutierung?
Wir legen Wert darauf, Personen zu rekrutieren, die unsere Grundwerte teilen. Das ist herausfordernd, gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Trotzdem müssen neue Mitarbeitende bei uns nicht nur fachlich, sondern auch menschlich passen. Wir schauen uns bei Vakanzen immer die Teamkonstellation an und achten auf Vielfalt und Interdisziplinarität.