Die Alte Aare wird wieder zum vielfältigen Lebensraum

Wie ein natürliches Fliessgewässer sah die Alte Aare im Kanton Bern kaum mehr aus, stellenweise glich sie einem leblosen Kanal. Dabei ist der Fluss für die angrenzende Auenlandschaft unverzichtbar. Um die dortige Artenvielfalt zu erhalten und zu fördern, begleiteten Wasserbauingenieure von Basler & Hofmann eine Fülle von Revitalisierungsmassnahmen – und verbesserten gleichzeitig den Hochwasserschutz. Es ist das bisher grösste Projekt dieser Art in der Schweiz.

Niels Werdenberg und Diego Studer streifen durch das sonst menschenleere Naturidyll. Die Alte Aare sprudelt bei Dotzigen (BE) fröhlich über Baumstämme, Wurzelstöcke und um Büsche herum, Vögel geben von den Baumkronen herab ein Konzert. Nichts deutet darauf hin, dass das Gebiet noch bis vor einigen Wochen eine Baustelle war, dass hier Bagger gelärmt und Motorsägen gekreischt haben. Die schweren Maschinen haben den Fluss und die angrenzende Auenlandschaft über mehrere Kilometer hinweg komplett neu gestaltet. Sie gruben mehrere Seitenarme aus, trugen in Ufernähe Tausende von Kubikmetern Terrain ab und rodeten unzählige Bäume. «Und das in einem Naturschutzgebiet», sagt Niels, der als ökologischer Fachspezialist die Bauarbeiten begleitete, «das ist schon sehr speziell.»

Nötig waren die ungewöhnlichen Bauarbeiten insbesondere wegen der Hochwassergefahr, die von der Alten Aare ausgeht. In der Vergangenheit waren unter anderem die Dörfer Dotzigen oder Studen überflutet worden. Deshalb planten die zehn an den Fluss angrenzenden Gemeinden – sie bilden zusammen den Wasserbauverband Alte Aare – den Ausbau von Dämmen sowie eine Reaktivierung eines alten Seitenarms des Flusses. Spannend für Niels, Biologe und Umweltingenieur bei Basler & Hofmann, ist aber vor allem die ökologische Aufwertung, die zurzeit in einem Zug mit dem Hochwasserschutz realisiert wird.

Denn dem Auengebiet mangelt es seit hundertvierzig Jahren an Dynamik: Seit man in den 1880er-Jahren in der ersten Juragewässerkorrektion die Aare bei Aarberg in den Bielersee umgeleitet hat, fliesst nur noch eine kleine, regulierte Wassermenge durch den übriggebliebenen Altlauf. So verkümmerte die Alte Aare zunehmend zum kraftlosen, monotonen Kanal. Von einigen grossen, aber sehr seltenen Hochwassern abgesehen, fehlten damit die für den angrenzenden Auenwald lebenswichtigen, regelmässigen Überflutungen. Die Folge: Die Aue degradierte und verlor ihre typischen Lebensräume. Höchste Zeit also, der Alten Aare neues Leben einzuhauchen.

Neue Alte Aare

Bei Dotzigen sind die Revitalisierungsmassnahmen bereits abgeschlossen. Hier will Niels Werdenberg heute die Arbeiten zusammen mit seinem Assistenten Diego Studer, Zeichner Ingenieurbau im dritten Lehrjahr, begutachten und einige GPS-Vermessungen vornehmen. Nach dem morgendlichen Regen tropft es noch von den Bäumen, doch schon lugt die Sonne ab und zu durch das Laubgeflecht. Die beiden wandern an der Alten Aare entlang. Ihr erstes Ziel sind zwei der neben dem Flusslauf neu gebauten Amphibienteiche. Die Tümpel sollen gefährdeten Frosch- und Krötenarten als neuen Lebensraum dienen. «Vor allem der nur noch isoliert vorkommende Laubfrosch könnte sich durch die Massnahmen wieder ausbreiten», hofft Niels.

Nachdem die Teiche vermessen sind, stapft das Zweierteam weiter flussaufwärts. Plötzlich knirscht es unter den Schuhen – der Boden ist nicht mehr erdig, sondern aus Kies. Niels und Diego sind an einem der neuen Pionierstandorte angelangt, einer ausgedehnten Kiesbank im Wald. Diese bietet Reptilien wie der Ringelnatter und allerlei Eidechsenarten sowie verschiedenen Laufkäferarten wieder neue Versteck- und Sonnenplätze. Ein paar Schritte weiter schaut Niels hoch und blinzelt in die Baumkronen. Hier dringen mehr Sonnenstrahlen durch den Wald als an anderen Stellen. «Früher gab es hier Orchideen», erzählt der Biologe. «Um ihnen die Chance zu geben, wieder zu wachsen, haben wir den Föhrenwald gelichtet.»

Schlaue Holzbauten

Auch für die Fischpopulation der Alten Aare haben Niels und seine Kollegen gesorgt. Sie haben im Flusslauf unzählige Einbauten aus Totholz errichtet. Überall im Gewässer sieht man Raubäume, die in den Fluss hineinragen und am Ufer verankert sind, Baumbuhnen sowie Schwellen aus Stämmen, die vom Wasser umspült werden. «All diese sogenannten Instream-Massnahmen machen das Gewässer dynamischer und zu einem besseren Lebensraum für Fische», erklärt Niels. Erst dadurch entstehen wieder Stellen, wo das Wasser mal langsamer und mal schneller fliesst und es entwickelt sich eine abwechslungsreiche Unterwasserlandschaft aus flacheren und tieferen Stellen, die den Fischen passende Rückzugs- und Jagdmöglichkeiten bietet. «Den Flüssen fehlt heute die natürliche hölzerne Inneneinrichtung», sagt Niels. «Hier aber konnten wir nachhelfen.» Gesamthaft rund 1000 Kubikmeter Totholz wurden auf sechs Kilometern Flusslauf verbaut. «So viel wie sonst nirgends in der Schweiz», kommentiert Niels. Das Totholzmaterial stammt ausschliesslich aus den ohnehin vorgesehenen Auslichtungen des Auenwalds. «Die Einbauten bringen ökologisch sehr viel, tangieren dabei aber nur gerade den Flusslauf», sagt er. Damit beanspruchen sie keine Wald- oder Kulturlandflächen.

Das ist bei den anderen Massnahmen anders. Denn zur Aufwertung der Auenlandschaft haben die Bagger entlang der Alte Aare viel Terrain abgegraben. Weil das Restwasser im Kanal nicht ausreichte, um die Aue regelmässig zu überschwemmen, senkte man in bestimmten Gebieten das Niveau der Uferumgebung um bis zu einem Meter ab. Und schuf so die Voraussetzung dafür, dass die als «national bedeutend» eingestufte Auenlandschaft erhalten bleibt. Auf dem abgesenkten Terrain können sich nun Weichholzauen, Bruchwälder und Feuchtwiesen entwickeln: Lebensräume für viele bedrohte Tiere und Pflanzen. Zudem hat das Projektteam mehrere neue Seitenarme für das Gewässer gestaltet. So hat das Team der Auenlandschaft mehr Platz gegeben und gleichzeitig den Hochwasserschutz verbessert.

Zurück beim Installationsplatz schaut sich Niels noch den Fortschritt der Sandkasten-Modelle an, welche die Massnahmen im Kleinformat zeigen. An ihnen wird er nächste Woche einer Schülerschar erklären, was er und seine Kollegen hier machen und warum. Das Vorzeigeprojekt ist für ihn noch lange nicht beendet. Er freut sich schon jetzt auf die bevorstehende Arbeit im nächsten Bauabschnitt zwischen Busswil und Dotzigen.

 

Zur Übersicht "Aktuelles"