In der Gefahrenzone

Im Januar 2016 stürzte ein gewaltiges Felspaket in die Kleine Emme bei Werthenstein und richtete beträchtliche Schäden an. Die Steilwand bedroht das Siedlungsgebiet noch immer. Mit ungewöhnlichen Sofortmassnahmen rückt man ihr zu Leibe.

Es hört sich an wie eine Gerölllawine, die irgendwo in der Ferne niedergeht: ein feines Rieseln, ein anschwellendes Rauschen, ein Poltern. Dann Stille. Bis es wieder losgeht, und wieder. Im Minutentakt stürzt Felsmaterial über die 80 Meter hohe Steilwand, häuft sich zu einem Schuttkegel am Fuss der Wand oder stürzt direkt in das aufgewühlte Wasser der Kleinen Emme. Ein erschreckender Anblick – eigentlich. Doch was hier abläuft ist ein kontrollierter Vorgang. Nicht Naturkräfte bringen den Fels zum Stürzen, sondern zwei Bagger, die hoch oben auf dem Felsplateau ein wohl koordiniertes Ballett aufführen. Ihr Auftrag: In 10 Wochen rund 20'000 Kubikmeter Fels abtragen. Das entspricht in etwa dem Volumen eines 50-Meter-Schwimmbeckens, allerdings mit einer Tiefe von 20 Metern. Wozu soll das gut sein?

 

Die Nacht vom 11. Januar 2016

Auslöser der ungewöhnlichen Bagger-Aktion ist die Nacht vom 11. Januar 2016. In den frühen Morgenstunden lösten sich 5'500 Kubikmeter Fels von der Steillwand "Badflue" bei Wolhusen und stürzten in die Kleine Emme. Der Aufprall der Felsmasse schleuderte den Flussschotter bis zu 300 Meter weit in die Umgebung. Wie eine Geschosssalve traf er die Gebäude des gegenüberliegenden Industriegebiets. Ein Wunder, das niemand verletzt wurde. Der Felssturz verschüttete das Flussbett fast völlig. Das Wasser suchte sich einen neuen Weg durch das Industriegebiet Sandmättli und über die Kantonsstrasse, überschwemmte Gebäude und unterspülte eine Hochwasserschutzmauer. Eine Katastrophennacht für die Gemeinden Werthenstein und Wolhusen. Wie kann dies in Zukunft verhindert werden?

 

Gefahr in Verzug

Noch während die Aufräumarbeiten liefen, beauftragte der Kanton Luzern Basler & Hofmann mit dem Projekt "Integrales Risikomanagement Badflue", mit dem eine langfristige Lösung erarbeitet werden soll. Doch schon die ersten geologischen Analysen der Felswand zeigten, dass die akute Gefahr bei weitem noch nicht gebannt ist: Es konnte jederzeit weiteres Felsmaterial herabstürzen – mit derselben Kettenreaktion wie in der Januarnacht. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte das Projektteam Sofortmassnahmen, um die Situation zu entschärfen. Am 24. Mai beschloss der Luzerner Regierungsrat, dass zum Schutz von Mensch und Sachwerten der absturzgefährdete Felskamm vorsorglich abzutragen ist. Im Juni nahmen die Bagger ihre Arbeit auf dem Felsplateau auf.

Strenger Verhaltenskodex

Wir sind Mitte Juli mit Bauleiter Jonas Stettler vor Ort. Von der Kantonsstrasse aus ist die kahle Felsflanke schon von weitem zu erkennen, ameisenklein wirken die Bagger. Das Baubüro befindet sich auf dem Gelände des Kieswerks, das beim Felssturz stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Hier gilt ein strenger Verhaltenskodex: "Solange der Fels noch nicht abgetragen ist, liegt das Gelände in der Gefahrenzone. Menschen dürfen sich hier nur kurz im Freien aufhalten und nur, wenn es unvermeidbar ist", erklärt Jonas. Ein Security-Mitarbeiter steht neben uns und hat die Felswand immer im Blick. Er sorgt dafür, dass die Regeln eingehalten werden. Und wie steht es um die Sicherheit der Baggerführer hoch oben am Berg? "Die Bagger sind gesichert und bewegen sich nicht an der Felskante. Und die beiden Maschinisten sind absolute Fels-Profis, die das Gestein und das Gebiet sehr gut kennen." Jonas tauscht sich eng mit ihnen und der beigezogenen Geologin aus. "Wir beurteilen die Lage gemeinsam."

Felssturz in Baggerschaufel-Portionen

Ist der Abtrag mit Baggern nicht etwas langwierig? Die Frage geht an den Gesamtprojektleiter Christoph Rüedlinger. "Es geht leider nicht anders", konstatiert der Naturgefahren-Spezialist. "Wir haben auch eine Sprengung des Felskörpers geprüft – aber das birgt zu viele und zu grosse Risiken." So landet Baggerschaufel für Baggerschaufel in der Kleinen Emme, von wo ein Grossbagger das Material auf die andere Uferseite schafft. Aus 20'000 Kubikmetern Fels werden durch den Sturz rund 35'000 Kubikmeter Lockermaterial, das mit Lastwagen weggeführt werden muss. "Das ist schon eine ungewöhnliche Aktion", findet auch Christoph Rüedlinger. Er hat jetzt bis zum Frühjahr 2017 Zeit, um mit seinem Team eine langfristig sichere Lösung für das betroffene Gebiet zu erarbeiten. Denn die Gefahr ist mit dem Felsabtrag nur für kurze Zeit gebannt. Die natürliche Verwitterung lässt sich nicht aufhalten, und auch die Kleine Emme nagt kräftig am Wandfuss. Es ist nur eine Frage der Zeit bis der nächste Fels sich löst. Noch kann Christoph Rüedlinger nichts zu den möglichen langfristigen Massnahmen sagen. "Wir machen den Fächer weit auf und prüfen wirklich jede Variante, um die Sicherheit im Gebiet Sandmättli nachhaltig zu erhöhen."

Zum Beitrag von Schweiz Aktuell vom 28.06.2016

 

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