EDITORIAL
Von technischen und menschlichen Toleranzen
Liebe Leserinnen und Leser
Toleranz gehört für uns Ingenieurinnen, Planer und Beraterinnen zum Alltag. Sie begegnet uns in Form von Massen: Technische Toleranzen definieren die zulässigen Abweichungen von Normmassen. Im Studium lernen wir, warum wir sie brauchen: Damit die Dinge, die wir planen, funktionieren – selbst wenn ein einzelnes Element das Normmass nicht zu 100 Prozent erfüllen sollte. Diese Art Toleranz hat klare Grenzwerte.
Die zwischenmenschliche Toleranz ist nur bedingt normiert: Sie ist der Spielraum, in dem andere Meinungen und Handlungen noch möglich sind, ohne dass das grosse Ganze – die Gemeinschaft – daran zerbricht. Die Grenzen dieser Toleranz können sich verschieben. Das zeigt etwa das Beispiel der Frauen im Tunnelbau – nachzulesen in der Rubrik «Fachlich & Persönlich».
Wo Gesetze nichts vorgeben, beginnt das Aushandeln: Sind 15 Minuten Verspätung in einer dringenden Sitzung noch tolerierbar? Ist der Tonfall meines Kollegen noch im Rahmen oder überschreitet er eine Grenze?
Was für den einen noch tragbar ist, ist für die andere schon «ein Stretch». Es ist dieser Gestaltungsraum, der Beziehungen ausmacht.
Zwischenmenschliche Toleranz ist anstrengend. Sie braucht Training. Das lateinische Wort «tolerare» bedeutet «ertragen». Tolerant zu sein heisst, Spannungen und Differenzen aushalten zu können und konstruktiv damit umzugehen. Warum ist das wichtig? Weil uns Toleranz als Team und als Unternehmen weiterbringt. Wer tolerant ist, zeigt sich offen für andere Perspektiven. Das ist die Basis für tragfähige Lösungen und für Innovation.
Damit wir die Spielräume zur Gestaltung unserer Beziehungen nutzen können, müssen wir unserem Gegenüber mit Respekt begegnen – und das Gespräch suchen. So bleiben wir konstruktiv!