«Als Ingenieur frage ich mich oft: Nützt noch mehr Präzision etwas?»

Toleranz gehört zum Alltag von Ingenieurinnen und Ingenieuren wie Fred Baumeyer, Leiter Hochbau bei Basler & Hofmann. Dabei geht es längst nicht nur um technische Toleranzen. Toleranz ist auch gefragt, wenn etwas Unerwartetes auf einer Baustelle passiert ist oder wenn in Verhandlungen Lösungen zu finden sind. Im Interview erzählt er uns von den verschieden Arten von Toleranzen, die ihn sein Leben als Ingenieur gelehrt hat.
Fred, was heisst Toleranz für dich?
Fred: Bei Toleranz geht es um Puffer, Spielräume, Passung. Toleranz findet an der Schnittstelle zweier Systeme statt: Es geht um Dinge, die zusammenpassen sollen. Der Spielraum – die Toleranz – ist der Bereich, in dem die Passung noch möglich ist, trotz Abweichung vom präzisen Sollmass. Wird der Spielraum überschritten, kann es sein, dass die Dinge nicht mehr funktionieren. Wir Ingenieure müssen in jedem Projekt technische Toleranzen definieren, für Bauteile, Abmasse, Verdrehungen. Wir halten uns dabei an die SIA-Norm 414 für Masstoleranzen.
In meinem Berufsleben habe ich auch viel über soziale Toleranz gelernt. Wird zum Beispiel ein neues IT-Tool eingeführt, dessen Mehrwert für mich nicht unmittelbar erkennbar ist, das aber für die gesamtbetriebliche Zusammenarbeit elementar ist, muss ich das zunächst einmal tolerieren. Und es gibt einen dritten Toleranzaspekt: Auch Frustrationstoleranz ist wichtig und kann sogar positiv sein.
Wann ist Frustrationstoleranz wichtig?
Fred: Bei der Frustrationstoleranz geht es ums Aushalten-Können. Ich beziehe mich vor allem auf die Akquisition. Als Ingenieurteams wirken wir in vielen Wettbewerben mit, und nicht immer schaffen wir es eine Runde weiter. Man muss auch Absagen akzeptieren können. Gute Arbeit allein reicht manchmal nicht, Glück und Pech gehören ebenso dazu. Eine Absage ist nicht immer als Niederlage zu verstehen. Statt zu verzweifeln, ist es wichtig, eine gewisse systemische Toleranz zu entwickeln, um daraus gestärkt den Blick nach vorne zu richten. Das hat sich bisher immer gelohnt.
Kam es in deiner Laufbahn schon vor, dass Toleranz entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg war?
Fred: Ja, Toleranz im technischen Sinn bei einem grossen Bauprojekt in der Nähe von Luzern. Dort sollten an einem Wohngebäude rund 100 vorgefertigte Balkone montiert werden. Der Unternehmer vergrösserte unplanmässig die Toleranzen in der Lochplatte für die Deckeneinlage. Als die Konterplatten der Balkonelemente angebracht werden sollten, hatten diese zu viel Spiel.
Da gingen die Emotionen hoch, die Frage der Verantwortung stand im Raum. Zunächst war gar nicht klar, warum die Elemente nicht passten. Als die Ursache geklärt war, haben wir eine ausgeklügelte Lösung gefunden. Es gelang, die Löcher mit Spezialmörtel so anzupassen, dass eine stabile Verbindung der Platten möglich wurde. Und das unter Zeitdruck: Wir mussten testen, einen Prototypen erstellen, Messungen durchführen, bis wir die Lösung – eine Ringspaltverfüllung – umsetzen konnten.

Die Emotionen gingen hoch. Wie reagiert man in solchen Momenten?
Fred: Indem man konstruktiv den «Fisch auf den Tisch» legt. Will heissen: die Herausforderung ansprechen und zusammen Lösungen suchen. Im Ingenieurwesen sind wir oft mit Emotionen konfrontiert, denn bei Bauwerken geht es meist um grosse Risiken, viel Geld und Zeitdruck. Im erwähnten Fall setzten sich letztendlich alle Beteiligten an einen Tisch. Wir schufen ein gemeinsames Verständnis davon, was die Fakten sind und welche Präzision nötig ist. Schliesslich fanden wir eine technische Lösung, die auch kostenseitig im Toleranzbereich lag. Toleranzen einzufordern, ist oft entscheidend für die Konfliktklärung.
Präzision, aber auch Spielraum spielen in deinem Beruf eine Rolle. Auf welcher Seite fühlst du dich wohler?
Fred: Das kommt darauf an. Mir gefällt das Zitat: «Lieber ungefähr richtig als genau falsch». Wenn ein junger Ingenieur oder eine junge Ingenieurin sagt: Wir müssen nochmals genauer rechnen, werde ich hellhörig. Geht es vielleicht nur darum, eine Entscheidung hinauszuzögern? Als Ingenieur frage ich mich oft: Nützt noch mehr Präzision etwas? Es bringt beispielsweise nichts, einen bestehenden Träger noch genauer zu berechnen, wenn anhand von Faustformeln schon klar ist, dass dieser offensichtlich nicht verstärkt werden muss. Es gibt Situationen, da ist es egal, wie genau du jetzt rechnest. Ich vertrete die Haltung: Nur so viel Präzision, wie nötig ist, um innerhalb der Toleranzgrenzen zu bleiben.
Der schiefe Turm von Pisa hat offenbar die Toleranzgrenzen des Bodens überbelastet. Wenn du den Turm sanieren dürftest, würdest du ihn begradigen?
Fred: Für mich als Ingenieur ist der Anblick eines ungewollt schiefen Bauwerks schon etwas befremdlich. Aber wenn wir mal ausklammern, dass es sich um ein schützenswertes Weltkulturerbe handelt, würde ich als Ingenieur wie folgt vorgehen: zuerst die Bauherrschaft fragen, was sie möchte. Dann in Szenarien denken, Berechnungen anstellen und Grenzwerte ableiten. Unser Team würde die Varianten ausloten und für sie die entscheidungsrelevanten Parameter, die Risiken, Chancen und Kosten aufzeigen, so dass die Bauherrschaft einen guten Entscheid treffen kann. Genau das ist unser Job: die Grundlagen zu erstellen, damit diejenigen, die entscheiden dürfen und müssen, einen fundierten und tragfähigen Entscheid fällen können. Bis dorthin braucht es oft Geduld, Zuversicht und Toleranz.
